Der Evangelische Kirchentag gilt als das größte zivilgesellschaftliche Begegnungsevent Deutschlands, 70.000 Teilnehmende wurden in diesem Jahr gezählt. Erstmals gab es im umfangreichen Programm auch ein „Zentrum Spiel“ – denn das konnte man sich in der Spielestadt Nürnberg nicht entgehen lassen.
Bei der Eröffnung dieses gleichermaßen christlichen wie säkularen Events sagte Kirchentagspräsident Thomas de Maizière nicht nur, dass die Tage in Nürnberg vom gemeinsamen Beten und Singen geprägt seien. Am Ende seiner längeren Aufzählung nannte de Maizière auch das gemeinsame Spielen. Hatte er es beinahe vergessen oder wollte er ein Ausrufungszeichen setzen?
Der Erfolg des Spiele-Cafés in der Wilhelm-Löhe-Schule, in der das „Zentrum Spiel“ untergebracht war, sprach für sich: Schon eine Stunde vor der Eröffnung waren die Tische besetzt, so dass an drei Tagen sicherlich 2000 Spielerinnen und Spieler gekommen waren. Sie wurden dort von den Ehrenamtlichen des Ali-Baba-Spieleclubs, des Spielecafés der Generationen und des Spiel des Jahres e.V. beraten und in die Spiele eingeführt.
Es gab zudem eine Reihe von Podien im „Zentrum Spiel“, die eine breite Palette an Themen abdeckten – von der Spielzeugproduktion in den Ländern des globalen Südens bis hin zum Sport. Das Brettspiel fand sich insbesondere in einer Gesprächsrunde, in denen im Dialog mit dem digitalen Spiel deren Bedeutung für die Kultur abgesteckt wurde. Begonnen wurde mit Zahlen: Çiğdem Uzunoğlu begründete in ihrer Anmoderation die Bedeutung des Kulturgutes Game mit dem in Vergleich zu allen anderen Kulturgütern enormen Umsatzzahlen. „Das ist ein riesiger Wirtschaftszweig“, weiß die Geschäftsführerin der zur Game (dem Lobbyverband der Branche) gehörende Stiftung Digitale Spielekultur. Während Uzunoğlus Co-Moderator Jens Junge, Direktor des Instituts für Ludologie, konterte („In 70 Prozent aller Haushalte gibt es ein Mensch ärgere dich nicht“), blies Podiumsgast Olaf Zimmermann ins gleiche Horn. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats wies lobend darauf hin, dass das Computerspiel ökonomisch besonders erfolgreich sei. Nur die Buchverlage seien in Deutschland zurzeit noch stärker. Er sei immer noch stolz darauf, die Computerspiele trotz der damaligen Kontroverse um „Shooter-Spiele“ in den Kulturrat aufgenommen zu haben. Für ihn war auch vor diesem Hintergrund immer klar: Computerspiele seien ganz genauso wie Bücher, „sie sind ganz normale Kulturgüter.“ Zimmermann appellierte an die Entwickler von Videogames, sich als Künstler zu verstehen.
Eine Debatte, welche Auswirkungen gewalthaltige Spiele für einzelne Personen haben, die entsprechend veranlagt sind, gab es nicht. Zwar hatte sich bei der Podiumsdiskussion „Wenn Religion im Spiel ist …“, die am Vortag stattfand, eine Schülerin mit der Beobachtung gemeldet, dass ihre Klassenkameraden offenbar auch Spiele mögen, die wegen ihrer Gewaltdarstellungen „ab 18“ klassifiziert sind. Sie zeigte sich sehr besorgt, dass viele in ihrer Klasse Sachen spielen, in denen es um Gewalt geht. Nicole Hanisch vom Berliner Computerspielemuseum wies diesen Publikumsbeitrag mit klaren Worten zurück. Die große Mehrheit der Spiele befasse sich längst mit anderen Themen, sagte Hanisch insbesondere mit Blick auf die vielen Indiegames.
Kritische Töne wählten die Podiumsteilnehmenden eher beim analogen Spiel. Die Archäologin Anna Klara Falke bemängelte, dass historische Darstellungen im Brettspiel fast immer männerdominiert seien. „Solche Stereotype muss man aufbrechen.“ Lukas Boch – er nahm ebenfalls an der Debatte über Religion und Spiel teil und gehört wie Falke den Boardgame Historians an – erläuterte, dass es in vielen älteren Spielen um das Erobern scheinbar unbewohnter Gebiete verbunden mit einem unkritischen Blick auf den Kolonialismus gehe. Heutzutage vermeide man hingegen zu oft die Auseinandersetzung mit den Themen der realen Welt und fliehe in die „Wohlfühlatmosphäre von Fantasywelten“, kritisierte Boch.
Während die Fachleute auf der Bühne zumeist lobten, wie die Bedeutung des Spiels zunimmt und für viele Menschen bereits mehr als ein Hobby sei, zeigte sich Anna-Nicole Heinrich skeptischer. Für die 27-Jährige, die als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vorsitzt, ist ein Spiel zeitlich abgegrenzt. „Ich kann rein- und rausgehen, das kann ich bewusst entscheiden. Wenn es wie bei Fußballprofis lebensbestimmend wird, ist es nicht mehr Spiel im ursprünglichen Sinn.“
Die Chance, auch über die Schattenseite des Videospielbranche, etwa das Suchtpotenzial für manche Minderjährigen, In-Game-Käufe und Lootboxen zu reden, wurde nicht genutzt. Überhaupt hätte man die steigenden Profite und Umsatzzahlen der Videogameindustrie näher beleuchten können. Denn in bei der Kirchentagseröffnung hatte Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm einen Wertewandel gepredigt. Für die Forderung, das Glück nicht mehr am materiellen Wachstum festzumachen, „sondern am Wachstum des Beziehungswohlstandes“, hatte er viel Zustimmung bekommen.
Die Diskussion über das Kulturgut Spiel dauerte bereits länger als eine Stunde, als doch noch ein anderer Zungenschlag aufkam. Die Schriftstellerin und narrative Designerin Lena Falkenhagen schilderte, dass die Kreativen in der Computerspielentwicklung oft gar nicht genannt werden. Gründe dafür seien das Urheberrecht, das die Spiele als Software einstuft, und Vertragsbestimmungen, die die Nennung derjenigen verbieten, die ein Spiel lokalisieren. Kulturrats-Geschäftsführer Olaf Zimmermann sieht das ebenfalls kritisch: „Es gibt keine Autorennamen beim digitalen Spiel, das ist anderes als beim Film, aber ähnlich wie beim Brettspiel.“ Den Autor der Siedler von Catan würde man ja auch nicht kennen, meinte Zimmermann und erntete Widerspruch bei der Spiel-des-Jahres-Jurorin Martina Fuchs: „Bei fast jedem Brettspiel steht der Autorenname vorne auf der Schachtel.“
Olaf Zimmermann, der auch der Synode einer evangelischen Landeskirche angehört, räumte ein: „Der Gamesbereich ist keine heile Welt, er ist eine sehr kommerzielle Welt.“ Im Unterschied zu allen anderen Sparten sei der Computerspielbereich im Kulturrat ausschließlich durch die Industrie, nämlich den Game-Verband vertreten. „Es gibt keine Gewerkschaft, keine Interessenvertretung der Kreativen“, bedauerte Zimmermann.
Allerdings ging die recht fachspezifische Debatte um das Kulturgut Spiel am Kirchentagspublikum vorbei. Jedenfalls machte ein lautstarker Zwischenruf darauf aufmerksam, dass das eigentlich angekündigte Thema – „Was macht das Spielen mit uns als Gesellschaft?“ – zu kurz komme.
Daraufhin erzählte Michael Geithner, der mit Playing History analoge und digitale Spiele entwickelt, von seiner spannenden Kooperation mit Bildungseinrichtungen, Museen und Gedenkstätten. „Die haben früher ihr Wissen zurückgehalten. Was geschieht, wenn Spieler:innen damit frei agieren?“, beschrieb Geithner den Grund der damaligen Sorgen. Diese seien längst von einer neuen Offenheit abgelöst worden. „Das Spielen bringt komplexe Themen rüber, ohne dass man merkt, dass man lernt“, ergänzte Martina Fuchs.
Es bleibt zu hoffen, dass sich das Gesellschaftsspiel auf dem Kirchentag nun dauerhaft etabliert. Denn ein Kulturgut, dass sich überhaupt nur in Gemeinschaft mit anderen erleben lässt, passt perfekt zu einem solchen Begegnungsevent. Selbst zurückhaltende Menschen setzen sich an Tische, wo bereits jemand anderes sitzt, und beginnen ein Gespräch. Denn der Kirchentagsschal ist das Erkennungsmerkmal, dass man zusammengehört. Das waren perfekte Ausgangsbedingungen auch für die restlos ausgelastete „Lange Nacht des Spiels“ im Nürnberger Pellerhaus, wo nicht nur Familien, Paare und Jugendgruppen an den Tischen saßen, sondern auch Einzelgäste aller Generationen mitspielten.