Brettspielevents, egal ob groß oder klein, fallen seit Monaten aus oder werden auf immer spätere Termine vorschoben. Gleichzeitig boomt der Absatz der Brettspiele. Der Gesamtmarkt ist je nach Segment zwischen 12 und 31 Prozent gewachsen, am allermeisten bei den Erwachsenenspielen, zu denen unter anderem viele Kommunikations- und Exit-Titel gehören. Da in diese Zahlen noch kein Weihnachtsgeschäft unter Pandemiebedingungen eingeflossen ist, wird es auch in den nächsten Monaten noch Rekorde zu vermelden geben, obwohl die Zahl der Brettspielneuheiten offenbar rückläufig ist.
Der Boom betrifft das Spieleangebot nicht gleichermaßen in seiner Breite, sondern die Umsatzsprünge konzentrieren sich auf die Spitze. Menschen, die während der Pandemie ihrer Liebe zum Brettspiel neu- oder wiederentdecken, greifen zunächst einmal zu den bekannten Marken, Verlagen und Auszeichnungen.Selbst manch passionierter Hobbyspieler, der viel lieber seine Expertenspielgruppen pflegt, sieht sich „zurückgeworfen“ aufs leicht zugängliche Spiel, mit dem er seine Mitbewohnerinnen und -bewohner begeistern konnte. Erst im Sommer hatte man sich wieder getraut, auch haushaltsfremde Mitspielende nach Hause einzuladen, mit denen man das Brettspielhobby teilt – öffentliche Spieletreffs blieben hingegen oft weiterhin geschlossen.
2021 wird uns Corona trotz der Fortschritte in der Impfstoffentwicklung weiterhin begleiten. Die Nürnberger Spielwarenmesse startet nicht Ende Januar, sondern im Hochsommer am 20. Juli 2021. Das ist ein Tag nach der Spiel-des-Jahres-Preisverleihung in Berlin, die den Abschluss des Spielejahrgangs 2021 markiert. Folglich wird die Spielwarenmesse defacto in den Jahrgang 2022 geschoben. Die Bedeutung von Nürnberg für den Neuheitenkalender nahm zwar in den letzten Jahren stetig ab. Trotzdem wird es bei manchen Verlagen nicht ohne Auswirkungen auf die Zahl der Frühjahrsneuerscheinungen bleiben, wenn die Pandemie weiterhin die gewohnten Abläufe einschränkt. Schon jetzt zähle ich merklich weniger deutschsprachige Herbstneuheiten, als sie üblicherweise zu den Internationalen Spieltagen im Oktober erscheinen. Zwar war das Kunststück gelungen, das analoge Spiel und die Digitalisierung in einem Wort zu verschmelzen – doch die in wenigen Monaten aus dem Boden gestampfte Spiel.digital blieb naturgemäß ein Surrogat für das weltgrößte Brettspielevent, das in normalen Jahren eine sechsstellige Zahl an Menschen in die Essener Messehallen zieht.
Zwar konnte offiziell wieder von weit mehr als tausend Essen-Neuheiten gesprochen werden, wenn alle Übersetzungen, Vertriebspartner, Erweiterungen und Wiederauflagen dazugezählt werden. Doch die Menge der Titel, die wirklich im Oktober erschienen ist, ist gesunken. Wer in die Details der Neuheitenlisten geht, findet dort vieles, was sich nach Nürnberg 2020 verspätet hat, und vieles, war erst in den nächsten Monaten erscheinen wird. Erstmals gibt es überhaupt eine nennenswerte Anzahl von November- und Dezember-Novitäten. Früher setzten die Verlage alles daran, dass so ein Spiel auf Biegen und Brechen noch in Essen auf den Demotischen und dem Verkaufstresen landet. Diesmal fehlte dieser Druck, und die Kontaktreduktionen der letzten Monate haben die Test- und Entwicklungsprozesse teilweise verzögert. Noch wichtiger war für manche, gerade die eher kleineren, Verlage die ökonomische Tatsache, dass die in der Essener Messe ohne Zwischenhandel getätigten Verkäufe eine beträchtlichen Teil des Jahresumsatzes ausmachen. Da erschien es ratsam, sich in diesem Jahr zurückzuhalten und auf bessere Zeiten zu hoffen. Während die Spiel ’19 noch 1200 Aussteller präsentierte – zu denen allerdings nicht nur Verlage gehörten – waren es auf der Spiel.digital gerade mal 400.
Wann es wieder echte Präsenzveranstaltungen geben wird, vermag keiner zu prognostizieren. Die Nummer 2 der hiesigen Publikumsmessen, die Spiel doch!, hat darauf reagiert und hat gleich zweimal die Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark Nord gebucht: am regulären Termin vom 26. bis zum 28. März und an einem sommerlichen Ausweichwochenende vom 25. bis zum 27. Juni 2021. Die Veranstalter der Nummer 3, die Berlin Brettspiel Con, mussten zuletzt einen veritablen Shitstorm über sich ergehen lassen, als sie es noch Anfang Oktober für nicht ausgeschlossen hielten, die Veranstaltung mit der damals rechtlich zulässigen Maximalbesucherzahl 1000 an Nikolaus durchziehen zu können. Doch nicht alles, was erlaubt ist, wird von der Spieleszene goutiert. Jetzt hofft man auf den nächsten Hochsommer und hat die Berlin Con auf das Wochenende unmittelbar vor der Spiel-des-Jahres-Preisverleihung gelegt – 16. bis 18. Juli 2021.
Zurzeit erleben wir erneut einen Shutdown, und das Brettspiel wird bei herbstlichem Wetter häufiger denn je für gemeinsame Erlebnisse in den Familien sorgen. Denn gute Spiele gibt es in Hülle und Fülle, das breite Publikum wird von einem Abebben der üblichen Neuheitenflut nichts merken. Auch manche kundigen Beobachter der Spielbranche werden nichts dagegen haben, dass die pure Masse an Neuerscheinungen von einer Konzentration auf die Klasse abgelöst würde. Aber wer kann dies garantieren? Ein höherer Anteil an herausragenden Titeln, die nicht in der Flut des Mittelmäßigen untergehen, ist kein Automatismus.
Moin, sehr treffender Artikel. Zum Aspekt Masse statt Klasse würde ich mich auch sehr über ihre All Time Faves freuen. Bei mir laufen einige Oldtimer ebenfalls immer noch bzw. wieder (im Familenkontext) gut, z. B. Samarkand / Abacus, Halali, Formula De, Linie 1,Atlantic Star, Durch die Wüste, Ausbrecher AG, Heisse Schlacht ums kalte Buffet. Überraschend erfolgreich aus der Versenkung sind sogar Chehops, Schützenfest und Wörterklauer aufgetaucht!